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Der 5-Jahres-Plan oder: Maria ist glücklich

Aktualisiert: 10. Okt. 2020


Maria ist zufrieden. Einen Kaffee in der Hand auf ihrer Terrasse sitzend blickt sie ins Grün. Erst gestern ist sie zurück gekommen von einem Konzert im europäischen Ausland, als Gastsängerin in einem renommierten Rundfunkchor. Die wohlverdiente Ruhe und Entspannung, lange war das in ihrem Leben nicht möglich. Aber es hat sich ja glücklicherweise soviel in der Musik-Industrie gewandelt in der letzten Zeit. Und nicht nur im Musik-Business selber, auch in der Gesellschaft und in deren Blick auf Kunstschaffende.

Maria muss sich nicht mehr, wie früher, ständig sorgen. Sie muss nicht mehr nur ums Überleben kämpfen, sie kann leben. Sie hat eine Perspektive, erhält faire Gagen, kann Vorsorgen, Rücklagen bilden und in die Rente einzahlen. Selbst die Vorstellung, eine Familie zu gründen ist nun nicht mehr so fern. Und als Mitglied einer systemrelevanten Branche mit beispielsweise in Deutschland weit mehr Mitarbeitern als in chemischer Industrie, Maschinenbau und Fahrzeugbau zusammen fühlt sich Maria mittlerweile nicht mehr nur durch warme Worte wertgeschätzt, sondern merkt am eigenen Leib, wie gut es tut, einfach nur normal zu verdienen.

Als Freiberuflerin mit einer Solo-Karriere, einer Chor-Karriere und einer Unterrichtstätigkeit hat sie in allen Bereichen jahrelang mit Lohndumping zu tun gehabt. Entweder sie akzeptierte die immer geringer werdenden Gagen, oder ein anderer war noch günstiger. Zum Glück gibt es jetzt Honorarstandards für jeden Bereich der Kultur- und Kreativ- Wirtschaft, die nicht unterschritten werden dürfen. Sollte das doch versucht werden, so kann sich jeder seit geraumer Zeit an die dem Kultusministerium angegliederte Ombudsstelle wenden. Dort arbeiten hauptamtliche Experten für die kontinuierliche Verbesserung der Arbeitsbedingungen in der Kultur- und Kreativ-Wirtschaft.

Ein wesentlicher Faktor für die Akzeptanz dieses ministerialen Ausgabepostens war die Schulreform. Man hatte endlich die schon lange vorliegenden Erkenntnisse in die Tat umgesetzt. Erkannt worden war schon lange, dass Kinder, die sich kreativ betätigen, in Musik und Kunst, auch in allen anderen Fächern plötzlich überdurchschnittliche Leistungen zeigen. Und so wurden schliesslich Kunst und Musik den anderen Fächern gleichgestellt. Fächerübergreifende Projekte wie zum Bespiel das auf die Beine stellen einer kompletten Opernproduktion, von der Komposition bis zum fertigen Produkt, in einer weiterführenden Schule sind jetzt die Regel. In einem solchen Projekt lernen die Schüler für jedes Fach, für die Sprachen, die Naturwissenschaften, Philosophie etc. - und für Kunst und Musik sowieso.

Das Bewusstsein für den Stellenwert von Kunst und Kultur in einer Gesellschaft ist endlich gesellschaftsübergreifend da. Das Bewusstsein für die enorme Schaffenskraft und Wirtschaftsleistung der Kunst- und Kreativ-Wirtschaft. Jeder Wirt, jeder Taxiunternehmer, jedes Reiseunternehmen, jedes Wirtschaftsunternehmen, jede Stadt und jedes Land ist sich bewusst, was die Schaffenden und Rezipienten von Kunst und Kultur auch in ihre Kassen spülen. Die Attraktivität von ganzen Städten und Regionen hängt ganz grundsätzlich mit dem Vorhandensein von Kunst und Kultur zusammen.

Und die Protagonisten dieser Industrie - denn das ist sie, Industrie, und nicht wie früher verniedlichend Szene genannt - wie Maria, bilden seitdem nicht mehr zu 95 Prozent das damals vorherrschende Künstler-Prekariat, sondern sind heute zu 100 Prozent ein wertgeschätzter Teil der Gesellschaft mit normalen Einkommensverläufen. Was wiederum zu einem exponentiellen Anstieg der Kreativität geführt hat. Das Bild vom armen Künstler, der die Armut braucht, um kreativ zu sein, ist schon längst auf dem Scheiterhaufen der Geschichte verbrannt. Künstler und Kreative sind heute in vielen Bereichen nebeneinander aktiv. Neben ihrer Bühnentätigkeit und ihrer Unterrichtstätigkeit engagieren sie sich mit ihrer Kunst auch sozial in Altenheimen, in Schulen, in Krankenhäusern und sozialen Einrichtungen. Dieses Engagement hat die verschiedenen Bereiche der Gesellschaft weiter zusammen wachsen lassen, nicht zuletzt auch durch allerorten stattfindende sogenannte Community-Projects, offen für jeden jeden Alters. Und für viele Künstler sind diese Tätigkeiten weitere stabile Einkommenssäulen. Maria ist also froh, dass es so gekommen ist. Sie war eine der ersten, die sich mit anderen zusammentat und begann, ihr Schicksal in die eigene Hand zu nehmen, Verhältnisse und Bedingungen zu ändern, ihre Stimme zu erheben. Mittlerweile durchlaufen alle Anwärter auf Vorstandsposten in der Musik-Industrie, wie zum Beispiel Intendanten, einen tiefgreifenden Auswahlprozess, an dem auch Künstler beteiligt sind, um sicher zu stellen, dass Menschen, die über Künstler entscheiden, auch etwas von der Materie Kunst verstehen, sowie über Management-Qualitäten wie Mitarbeiter-Führung und Kommunikation verfügen. Wobei dieses über jemanden entscheiden mittlerweile einem Miteinander gewichen ist, wie überhaupt auch in allen Gesellschaftsbereichen. Sänger und Dirigenten beispielsweise begeben sich gemeinsam in einen künstlerischen Findungsprozess. Niemand wird mehr zur Marionette degradiert. Regisseure arbeiten durch die Bank an der Personenführung, Oper ist wieder spannend, lebens- und hautnah, emotionsgeladen, und die Sänger fühlen sich in ihren besonderen Bedürfnissen wie zum Beispiel Akustik ernst genommen, auch und besonders was Kostüm, Maske und Bühnenbild betrifft.

metoo ist Geschichte, Regeln, Anstand, Respekt und Wertschätzung werden von allen Beteiligten eingehalten und gelebt. Auf der Bühne stehen starke und selbstbewusste Persönlichkeiten, und genau das ist ein Teil der Attraktivität, welche das Publikum wahrnimmt, weswegen es kommt. Hier wird ein neues Menschenbild wahrgenommen, ein ermächtigtes. Die Ombudsstelle kann heute ihre ganze Kraft verwenden auf die Mediation zwischen den verschiedenen Bereichen der Kunst-Industrie, auf die Anbahnung von Synergieeffekten innerhalb und ausserhalb der Kunstindustrie, sie ist Schnittstelle zwischen Politik, Kultur- Industrie und allen Beschäftigten. Maria engagiert sich auch für die neu heranwachsenden Sängergenerationen. Auf Einladung von Ausbildungsstätten wie Hochschulen leitet sie Seminare über das Musik- Business, damit sich Anfänger gut zurecht finden und ihre Rechte und Pflichten kennen. Ein ganzer Pool von aktiven und schon in Rente befindlichen Sängern bildet ein multisprachliches Mentorennetz, welches für den nötigen Informationsfluss unter den Kunstschaffenden sorgt. Erfahrung wird so weitergegeben, Gutes bewahrt, Neues entwickelt.

Mittlerweile sind die deutschsprachigen Theater auch wieder zu einer stabilen Ensemblekultur zurückgekehrt, das Rückgrat eines jeden Hauses. Jeder wird fachgerecht eingesetzt, Überlastungen kommen nicht mehr vor. Vielmehr steht im Vordergrund eine kontinuierliche, gesunde Entwicklung eines jeden Künstlers, durch alle Altersstufen hindurch. Vergessen sind die Zeiten, als das Äussere einer Person der bestimmende Faktor für ein Engagement gewesen zu sein schien, das Können nur sekundär. Nun steht das Können wieder ganz im Zentrum des Bühnengeschehens, auch was Regie und Personenführung angeht. Und das Wissen und der Erfahrungsschatz vom Bühnengeschehen lebt und wird weitergegeben, da die Protagonisten dauerhaft und lange im Business sind und sich sogar danach noch weiter einbringen. Maria war vor Kurzem als Solistin Teil einer Produktion und stellt fest: Selbst die Kritiker verstehen wieder etwas von Stimme, geben sich aus dieser Kompetenz heraus selber eine solche und schreiben eloquent und respektvoll über Sänger nicht nur ein Wort oder einen Halbsatz, sondern tatsächlich ganze Absätze. Der Kaffee ist zu Ende, das Sinnieren auch, die Pflicht ruft, denn eine Stimme muss täglich trainiert werden, Singen ist Hochleistungssport, viele Erkenntnisse der Sportmedizin fliessen heutzutage in die Aus- und Fortbildung der Sänger-Athleten. Ausserdem trifft sich Maria heute Abend noch zu einem Business-Meeting mit Francesco, auch ein Sänger, sie planen ein nächstes Projekt. Von beiden, von Maria und Francesco, werden wir noch hören.


2018 Zahlen zur Kultur- und Kreativ-Wirtschaft 3 Prozent des BIP in Deutschland werden durch die Kultur- und Kreativ-Wirtschaft erwirtschaftet. Der Beitrag zur volkswirtschaftlichen Gesamtleistung in D beträgt 100,5 Milliarden Euro, mehr als Energieversorger, chemische Industrie und Finanzdienstleister zusammen. Nur die Automobilindustrie mit einer Brutto-Wertschöpfung von 166,7 Mrd. Euro ist grösser als der Kunst- und Kultursektor, also Platz 2 für die Kultur- und Kreativ-Wirtschaft.

Arbeitsplätze:

chemische Industrie:                       340 000

Maschinenbau:                               1,08 Millionen

Fahrzeugbau:                                   1,1 Millionen Kultur- und Kreativbranche:   1,7 Millionen

Zuschauer:


Saison 2017/18: 1., 2. und 3. Bundesliga zusammen: 21,4 Millionen 

Theater und Konzert:   34 Millionen Zuschauer

Museum: 114 Millionen Besucher

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